Eine andere Utopie: Arkadien!

Es war wohl eine gute Idee, dass Andreas Neumann, Hörfunksprecher beim Bayerischen Rundfunk, und ich beschlossen, Vortrag und Arkadische Texte im Rahmenprogramm der Ausstellung „Wo bitte gehts nach Arkadien“ nicht nacheinander vorzutragen, sondern ineinander zu verschränken. Dazu gibt es auch eine sehr freundliche Besprechung von Ulrich Pfaffenberger in der Süddeutschen Zeitung.

Gustav Landauer

Wir beginnen mit einem längeren Zitat von Gustav Landauer, anarchistischer und sozialistischer Schriftsteller, Atheist und Mystiker und Mitglied der Münchner Räterepublik von 1918. Vor 100 Jahren wurde er von Reichswehrsoldaten am 2. Mai 1919 nicht weit von hier, in Stadelheim, brutal ermordet, er, der immer Pazifist und friedliebend war und Gewalt als mit der anarchistischen Idee unvereinbar ablehnte. Es geht hier aber weder um ein Gedenken Landauers noch um eine Erläuterung des Anarchismus. Ich führe Landauer an als einen wichtigen Theoretiker des utopischen Denkens. Als solcher schrieb er in seinem Essay „Die Revolution“ von 1907:

Die Revolution bezieht sich auf das gesamte Mitleben der Menschen. Also nicht bloß auf den Staat, die Ständeordnung, die Religionsinstitutionen, das Wirtschaftsleben, die geistigen Strömungen und Gebilde, die Kunst, die Bildung und Ausbildung, sondern auf ein Gemenge aus all diesen
Erscheinungsformen des Mitlebens zusammengenommen, … Dies allgemeine und umfassende Gemenge des Mitlebens im Zustand relativer Stabilität nennen wir: die Topie.

Die Topie schafft allen Wohlstand, alle Sättigung und alien Hunger, alle Behausung und alle Obdachlosigkeit; die Topie ordnet alle Angelegenheiten des Miteinanderlebens der Menschen, führt Kriege nach außen, exportiert und importiert, verschließt oder öffnet die Grenzen; die Topie bildet den Geist und die Dummheit aus, gewöhnt an Anstand und Lasterhaftigkeit, schafft Glück und Unglück, Zufriedenheit und Unzufriedenheit; die Topie greift auch mit starker Hand in die Gebiete ein, die ihr nicht angehören: das Privatleben des Individuums und die Familie. Die Grenzen zwischen Individualleben und Familiendasein einerseits, der Topie andererseits sind schwankend.

Die relative Stabilität der Topie ändert sich graduell, bis der Punkt des labilen Gleichgewichts erreicht ist. Diese Änderungen in der Bestandssicherheit der Topie werden erzeugt durch die Utopie. Die Utopie gehört von Haus aus nicht dem Bereiche des Mitlebens, sondern des Individuallebens an. Unter Utopie verstehen wir ein Gemenge individueller Bestrebungen und Willenstendenzen, die immer heterogen und einzeln vorhanden sind, aber in einem Moment der Krise sich durch die Form des begeisterten Rausches zu einer Gesamtheit und zu einer Mitlebensform vereinigen und organisieren: zu der Tendenz nämlich, eine tadellos funktionierende Topie zu gestalten, die keinerlei Schädlichkeiten und Ungerechtigkeiten mehr in sich schließt.

Auf die Utopie folgt dann eine Topie, die sich von der früheren Topie in wesentlichen Punkten unterscheidet, aber eben eine Topie ist.

Es ergibt sich das erste Gesetz: Auf jede Topie folgt eine Utopie, auf diese wieder eine Topie, und so immer weiter.

Für Landauer gibt es nicht eine, irgendwann erreichte, Utopie, sondern eine potentiell endlose Folge von Utopien und Topien – als geschichtliche Realität aber eigentlich nur eine Folge von Topien, denn nur diese sind Teil des gesellschaftlichen Mitlebens. Die Utopie dagegen gehört zum Individualleben. Sie realisiert sich nie direkt in einer Topie, ist aber der, den Individuen entspringende, Grund für deren historische Umformung.

Arkadien wirkt zunächst eher als Gegensatz zur Utopie. Erscheint die Utopie als eine erhoffte oder gar zu erwartende Zukunft, verbindet sich Arkadien mit dem Bild einer glücklichen Vergangenheit in Gestalt eines verschwundenen Goldenen Zeitalters. Während die Utopie assoziiert ist mit Fortschritt und einer Geschichte der Verbesserungen, erscheint diese in arkadischer Perspektive als eine der Verschlechterung und des Verfalls. Demgemäß vermuten wir hinter utopischen Ideen leicht eine dynamisch fortschrittliche Einstellung, hinter arkadischen oder auch idyllischen eine beschaulich konservative.

Es gibt aber auch Gemeinsamkeiten: in Utopie wie in Arkadien werden Gesellschaften entworfen oder vor Augen gestellt, die sich von der jeweiligen Gegenwart nicht nur graduell unterscheiden, sondern ein in ganz grundsätzlicher Weise besseres Leben verkörpern.

Gemeinsam ist beiden auch, dass sie als Gegenbild zu konkreten Mängeln der jeweiligen Gesellschaft verstanden werden müssen. Als repräsentatives Beispiel sei eine Passage aus der 1516 erschienenenUtopia des Thomas Morus, Kommunist und katholischer Heiliger, zitiert. Er argumentiert gegen die Todesstrafe, insbesondere weil die bestraften Vergehen von der Gesellschaft zu verantworten sind. Was er beschreibt, ist die berühmte Einhegung (Enclosure) der Allmenden.

Utopien

„Und doch ist das nicht der einzige Zwang zum Stehlen. …«
»Welcher ist das?« fragte der Kardinal.
»Eure Schafe«, sagte ich. »Sie, die gewöhnlich so zahm und genügsam sind, sollen jetzt so gefräßig und wild geworden sein, daß sie sogar Menschen verschlingen sowie Felder, Häuser und Städte verwüsten und entvölkern. In all den Gegenden eures Reiches nämlich, wo die feinere und deshalb teurere Wolle gewonnen wird, genügen dem Adel und den Edelleuten und sogar bisweilen Äbten, heiligen Männern, die jährlichen Einkünfte und Erträgnisse nicht mehr, die ihre Vorgänger aus ihren Gütern erzielten. Nicht zufrieden damit, daß sie mit ihrem faulen und üppigen Leben der Allgemeinheit nichts nützen, sondern eher schaden, lassen sie kein Ackerland übrig, zäunen alles als Viehweiden ein, reißen die Häuser nieder, zerstören die Städte, lassen nur die Kirchen als Schafställe stehen ..

Damit also ein einziger Verschwender, unersättlich und eine grausige Pest seines Vaterlandes, einige tausend Morgen zusammenhängenden Ackerlandes mit einem einzigen Zaun umgeben kann, vertreibt man Pächter von Haus und Hof. Entweder umgarnt man sie durch Lug und Trug oder überwältigt sie mit Gewalt; man plündert sie aus oder treibt sie, durch Gewalttätigkeiten bis zur Erschöpfung gequält, zum Verkauf ihrer Habe. …„Ihren gesamten Hausrat, der ohnehin keinen großen Erlös bringen würde, auch wenn er auf einen Käufer warten könnte, verkaufen sie um ein Spottgeld, wenn sie ihn sich vom Halse schaffen müssen. Ist dann der geringe Erlös in kurzer Zeit auf der Wanderschaft verbraucht, was bleibt ihnen dann schließlich anderes übrig, als zu stehlen und am Galgen zu hängen – nach Recht und Gesetz natürlich“

Die bedeutenden Utopien (es gibt natürlich auch andere) gehen immer von solchen Erfahrungen des Elends in der eigenen Gesellschaft aus, um vor diesem Hintergrund eine andere gerechtere und bessere zu entwerfen. Aber auch die arkadischen Gemeinschaften und insbesondere ihre Attraktivität für ihre Leser können nur verstanden werden, wenn sie gesehen werden als Gegenbild zur eigenen bedrückenden Gegenwart. So entwerfen die Pegnitzschäfer im 17. Jhdt. in Nürnberg die Bilder eines friedlichen Arkadiens in Angesicht der Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, der durchaus auch in den Dichtungen selbst nicht ausgespart wird, hier im „Pegnesischen Schäfergedicht“:

Es schlürfen die Pfeiffen
es würbeln die Trumlen
Die Reuter und Beuter zu Pferde sich tumlen
Die Donnerkartaunen durchblitzen die Lufft
Es schüttern die Thäler
es splittert die Grufft
Es knirschen die Räder
es rollen die Wägen
Es rasselt und prasselt der eiserne Regen
Ein jeder den Nechsten zu würgen begehrt
So flinkert
so blinkert das rasende Schwert.

Zur gleichen Zeit, 1648, verteidigt der Bürgermeister von Lemberg / Lviv Zimorowic in blutigen Schlachten seine Stadt gegen Kosaken und Tartaren und schreibt vor diesem Hintergrund seine arkadischen „Neuen Rhutenischen Idyllen“.

Goldenes Zeitalter

Was aber in Arkadien und Utopie jeweils als Gegenbild zur bedrückenden Gegenwart entworfen wird, unterscheidet sich doch beträchtlich: In der Utopie geht es stets um „den besten Zustand des Staates“ („De optimo rei publicae statu“, wie es bei Thomas Morus heißt). Als Mittel der Verbesserung stehen mal die Rechtsprechung, mal die Bildung, die Wissenschaft oder anderes im Zentrum. Immer geht es aber um die optimale Ausgestaltung von Institutionen. Wie steht es um Staat und Institutionen in Arkadien. Einer der ältesten europäischen Texte, die „Werke und Tage“ von Hesiod (8./7.Jhdt v. Chr.) schildert das Goldene Zeitalter, dort Zeit des Kronos genannt:

Hesiod, Werke und Tage: Goldenes Zeitalter, Zeit des Kronos
Golden war das Geschlecht der redenden Menschen das erstlich
Die unsterblichen Götter, des Himmels Bewohner erschufen.
Jene lebten, als Kronos im Himmel herrschte als König
Und sie lebten dahin wie Götter ohne Betrübnis
Fern von Mühen und Leid, und ihnen nahte kein schlimmes
Alter, und immer regten sie gleich die Hände und Füße
Freuten sich an Gelagen, und ledig jeglichen Übels
Starben sie, übermannt vom Schlaf ,und alles Gewünschte
Hatten sie. Frucht bescherte die nahrungsspendende Erde
Immer von selber, unendlich und vielfach. Ganz nach Gefallen
Schufen sie ruhig ihr Werk und waren in Fülle gesegnet
Reich an Herden und Vieh, geliebt von den seligen Göttern.

Von Staat und Institutionen ist keine Rede und das bleibt auch weiter so in der Geschichte Arkadiens. Allenfalls in weiter Ferne tauchen die Umrisse staatlicher Institutionen auf. Arkadien ist ein Land ohne Staat, ohne Militär, ohne Rechtsprechung, ohne Gefängnisse, ohne Technik und Wissenschaft, ohne Wachstum, oft ohne Geld und Ackerbau und so weiter.

Arbeit und Müßiggang

Nehmen wir als weiteres Beispiel die Arbeit und ihre ungleiche Verteilung unter den Menschen. In der Utopie „Sonnenstaat“ beklagt Campanella 1602,

70000 Menschen leben in Neapel, und von ihnen arbeiten kaum zehn- oder fünfzehntausend. Diese kommen durch übermäßige, andauernde, tägliche Arbeit herunter und gehen zugrunde. Die restlichen Müßiggänger aber verderben gleichfalls, und zwar durch Faulheit, Geiz, körperliche Gebrechen, Ausschweifung, Wucher usw. … In der Sonnenstadt dagegen werden die öffentlichen Dienste und Arbeiten jedem einzelnen zugeteilt; deshalb genügt es auch, wenn jeder kaum vier Stunden arbeitet. Die übrige Zeit verbringt er auf angenehme Weise mit Lernen, Disputieren, Lesen, Erzählen, Schreiben, Spazierengehen, geistigen und körperlichen Übungen und Vergnügungen.

Die Utopie nimmt das zum Anlass, eine Gesellschaft zu entwerfen, in der die Arbeit gerecht verteilt wird, und Institutionen einzurichten, die das gewährleisten. In Arkadien dagegen wird gar nicht gearbeitet, zumindest keine Arbeit getan, die als belastend oder entfremdet empfunden wird.

Wie gerechtfertigte Bedürfnisse gerecht erfüllt werden können, ist das zentrale Thema der Utopien. Sie stehen in der Tradition diskursiver Texte, insbesondere in der Nachfolge von Platons Politeia (Anfang 4.Jhdt v.Chr.).

Wohlan, sprach ich, lass uns also in Gedanken eine Stadt von Anfang an gründen. Es gründet sie aber, wie sich zeigte, unser Bedürfnis. – … – Aber das erste und größte aller Bedürfnisse ist die Herbeischaffung der Nahrung des Bestehens und Lebens wegen. – … – Das zweite aber die Wohnung; das dritte Bekleidung und dergleichen.

Nicht so in Arkadien. Die Erfüllung der Grundbedürfnisse ist hier kein Thema, sie wird als gegeben vorausgesetzt, zum einen durch eine gütige Natur, zum anderen durch die Beschränkung auf ein einfaches Leben.

So entsteht der Freiraum, in dem die eigentlich arkadischen Bedürfnisse zur Erfüllung kommen können, die vor allem auf Müßiggang, Liebe und Poesie gerichtet sind. Hegel, der dem arkadischen Leben nicht wohlgesonnen war, beschreibt sie spöttisch (als)

„mit so vieler Sentimentalität als möglich solche Empfindungen zu hegen und zu pflegen, welche diesen Zustand der Ruhe und Zufriedenheit nicht stören, d.h. in ihrer Art fromm und zahm zu sein, auf der Schalmei, der Rohrpfeife usf. zu blasen oder sich etwas vorzusingen und vornehmlich einander in größter Zartheit und Unschuld liebzuhaben.“

Liebesfreiheit

Liebe und Liebesfreiheit sind in der Tat ein wichtiges Thema in Arkadien und zur Zeit der Renaissance in Italien vielleicht sogar das zentrale.

In dem Hirtenspiel Aminta von Torquato Tasso (1573/80) hört sich das so an:

O golden-schönes Alter,
Nicht, weil von Milch die Flüsse
Da flossen und der Honig troff von Wäldern,
Ganz ohne Mühewalter
Der Acker trug Genüsse
Und giftlos strich die Schlange über Feldern;
Nicht, weil nie Wolkendräuen
Ein finstres Zelt bereitet,
Nein – ewiges Erfreuen –
Der Frühling sich in ständigem Erneuen
Lachend vor Himmelsheiterkeit gebreitet,
Auch kein fremder Besucher Krieg oder Waren brachte an das Ufer.

Nur deshalb, …

Weil da noch galt: Erlaubt ist, was gefällt
Da führten zwischen Bächen
Und Blumen hübsche Reigen
Die Amoretten ohne Feuerbrände,
Da mischten in ihr Sprechen,
Gesellig unter Zweigen,
Nymphen und Hirten Flüstern, Spiel der Hände
Und Küsse ohne Ende;
Das Mädchen nackt und bar
Barg nicht der Rosen Füllen,
Die Schleier heut verhüllen,
Noch ihrer festen Brüste Apfelpaar;

Nur dein Werk war es, Ehre,
Dass Diebstahl ward, was Amors Gabe wäre.

Am besten wärs, du brächtest
Unruhevollen Schlummer
Dem, der da viel bedeute,
Uns aber, kleine Leute,
Laß leben wie in Urzeit, frei von Kummer,
Lasst lieben uns, es lassen
Die Jahre Menschenleben bald verblassen.
Lasst lieben uns, die Sonne sinkt und hebt sich,
Uns glänzt nur kurz ihr Funkeln,
Bald hüllt uns ein die ew’ge Nacht mit Dunkeln.

Das Liebesleben ist auch Gegenstand der Utopien und die Vorschläge dazu halten sich in keiner Weise an die moralischen Konventionen der Zeit. Es wird aber primär unter der völlig anderen Perspektive der Fortpflanzung gesehen, geleitet von dem Nutzen für Arterhaltung oder häufig auch Artverbesserung.

So steht in der Utopie „Sonnenstaat“ des Kalabresen Tommaso Campanella (1602)

Jedenfalls sah ich, dass bei den Sonnenstaatlern die Frauen im Gehorsam und im Bett gemeinsam sind, jedoch nicht durchweg und nicht nach Art der Tiere, die jedes Weibchen, das ihnen begegnet, annehmen, sondern lediglich der gesunden und leistungsfähigen Nachkommenschaft wegen.

Sie spotten über uns, weil wir der Fortpflanzung der Hunde und Pferde unsere eifrige Sorge widmen, die der Menschen aber vernachlässigen.

(Campanella macht sich dabei durchaus detaillierte Gedanken:

(Die Beamten und wissenschaftlichen Lehrer) haben infolge des vielen Nachdenkens nur schwache Triebe und sind mit ihren geistigen Kräften nicht voll beteiligt; deshalb, weil sie immer über irgend etwas grübeln, bringen sie nur schwächliche Nachkommen hervor. Daher wendet man hier besondere Maßnahmen an: man verbindet diese Gelehrten mit Frauen, die von Natur aus lebhaft, lebenstüchtig und besonders schön sind. Umgekehrt gibt man tatkräftigen, rührigen, raschen und jähzornigen Männern fette Frauen von sanften Sitten. )

Der Gestus bleibt immer der der Argumentation und der Rationalität, die in der Regel in irgendeinem Nutzen besteht. Sinnlichkeit und Gefühl tauchen allenfalls unterschwellig auf. In arkadischen Zusammenhängen klingt das ganz anders, wie hier wieder bei Tasso:

“ Ich tat, als hätt mich in die Unterlippe/ Ein Bienchen auch gestochen … / und Silvia voller Einfalt,/ …/ Erbot sich, abzuhelfen/ Der vorgetäuschten Wunde – ach, sie machte/ Noch tiefer, tödlicher/ Die eigentliche Wunde./ … / Nicht saugt aus einer Blume/ So süßen Honig eine Biene, wie ich / Entsog den frischen Rosen,/ Ob auch die glühnden Küsse,/ Getrieben von der Lust, sich zu befeuchten,/ Angst zügelte und Scham,/ So dass sie sanft, gewiß,/ Und nicht sehr mutig waren./ Doch während mir ins Herze/ Die zarte Süße drang,/ Geheimen Giftes voll,/ Empfand ich solche Wonne,/ dass ich, behauptend, noch nicht sei vergangen/ Der Schmerz vom Bienenstiche,/ Erreichte, dass sie mehrmals/ Den Zauber wiederholte./ Seitdem begannen ständig zuzunehmen/ Die ungestillte Leidenschaft und Gier, …“

Hier wird nicht argumentiert, sondern veranschaulicht, vergegenwärtigt, ausgemalt. Nicht Bedürfnisse werden gerechtfertigt, sondern Wünsche geweckt oder wachgerufen. In Arkadien wird kein gesellschaftspolitisches Programm entworfen, sondern eine Wunschwelt. Und die Mittel, die dafür zum Einsatz kommen, sind nicht die des Diskurses, sondern die der schönen Literatur. Wie diese wird Arkadien daher leicht als Fiktion unverbindlich-spielerischen Charakters ohne theoretischen Wert und ohne praktische Relevanz betrachtet.

Poesie

In Arkadien spielt die Poesie, in der Regel in enger Verbindung mit der Musik, natürlich eine zentrale Rolle und bedarf dort – als selbstverständlicher Bestandteil arkadischen Lebens – keiner Legitimation durch irgendeinen Nutzen.

in der Utopie dagegen tritt sie kaum in Erscheinung. Morus erwähnt lediglich die Werke Homers, Euripides‘, Sophokles‘ und Aristophanes‘, vermutlich eher ihres moralischen als ihres literarischen Anspruchs wegen. Bei Campanella spielen die Dichtung und Musik eine Rolle bei der Verehrung der Feldherren (wobei aber bestraft wird, wer „lügenhaft erfindet“); ausserdem kommt ihnen eine gewisse therapeutische Funktion zur Besänftigung (selten vorkommender) leidenschaftlicher Liebe zu.

Ausdrücklich geht nur Platon auf die Künste ein. Er schließt Dichtung und Musik aus seinem „Staat“ aus, mit wenigen Ausnahmen, in denen sie dem Nutzen der Gemeinschaft dienen. Er begründet das damit, dass die Dichtung nur angenehm sei, aber nicht durch einen Nutzen gerechtfertigt; schlimmer noch: indem sie zum Angenehmen überredet statt zum Guten zu überzeugen, hindert sie die Herrschaft der Vernunft über die Leidenschaften.

Denn sie (die Dichtung) nährt und begießt alles dieses, was doch sollte ausgetrocknet werden, und macht es in uns herrschen, obwohl es doch müsste beherrscht werden, wenn wir Bessere und Glückseligere statt Schlechtere und Elendere werden sollten.

Deutlicher kann man die Verschiedenheit von Arkadien und Utopia nicht zum Ausdruck bringen, gilt doch für die Idylle in besonderem Maße das über die Poesie Gesagte, nämlich dass in ihr „Bedürfnisse“ nicht gerechtfertigt, sondern nur deren angenehme Erfüllung ausgemalt wird.

Die außerordentlich eindrucksvolle Wirkungsgeschichte der arkadischen Idee, die angesichts der scheinbaren Banalität der Hirtengedichte kaum erklärlich ist, lässt aber doch fragen, ob der strenge Richterspruch Platons unwidersprochen akzeptiert werden muss. Spricht nicht doch einiges für die Beschäftigung mit den arkadischen „Bedürfnissen“.

Ein erster Zeuge ist Fontenelle, Philosoph französischen Typs, Aufklärer und auch Theoretiker der Idyllendichtung. Fontenelle bestimmt im Discours sur la nature de l’èglogue(1688) das Thema pastoraler, also arkadischer Dichtung als die Darstellung des Zusammenwirkens der stärksten Leidenschaften oder Triebe der Menschen – und das sind nach ihm Faulheit und Liebe, wobei Faulheit nicht mit absoluter Untätigkeit gleichzusetzen ist.

Dem seien zwei Bemerkungen Sigmund Freuds an die Seite gestellt:

Das Motiv der menschlichen Gesellschaft ist im letzten Grunde ein ökonomisches; da sie nicht genug Lebensmittel hat, um ihre Mitglieder ohne deren Arbeit zu erhalten, muss sie die Anzahl ihrer Mitglieder beschränken und ihre Energien von der Sexualbetätigung weg auf die Arbeit lenken.

Mit der Erkenntnis, dass jede Kultur auf Arbeitszwang und Triebverzicht beruht …“

Damit soll weder die Idylle noch die Idyllentheorie zur Vorläuferin der Psychoanalyse emporstilisiert werden, aber ersichtlich sind es genau die gleichen Passions oder Triebe, von denen die Rede ist. Und – zumindest seit Freud – sind wir gewohnt, sie als wesentliche Elemente menschlichen Lebens anzuerkennen.

Deutlich wird dabei auch ein Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und individuellen Wünschen. Artikulieren diese nicht in anderer Hinsicht viel tiefer das, was wir wirklich wollen, nicht was uns am Leben erhält, sondern warum wir leben wollen?

Die Sicht aus der Perspektive der Passions, der Leidenschaften und Gefühle hat es sogar in eine Apple-Werbung geschafft, stammt aber eigentlich aus dem Film “Club der toten Dichter”

Wir lesen und schreiben Gedichte nicht nur so zum Spaß. Wir lesen und schreiben Gedichte, weil wir zur Spezies Mensch zählen, und die Spezies Mensch ist von Leidenschaft erfüllt; und Medizin, Jura, Wirtschaft und Technik sind zwar durchaus edle Ziele und auch notwendig für das Leben; aber Poesie, Schönheit, Romantik, Liebe sind das, wofür wir leben.

Arkadien als Utopie?

Die Unterschiedlichkeit von Arkadien und Utopie drückt vielleicht gar keinen Gegensatz aus, sondern entspringt der Tatsache, dass beide auf ganz verschiedenen Ebenen zuhause sind. Für Gustav Landauer, wenn wir uns an seine eingangs zitierten Sätze erinnern, gehört Arkadien als eine Welt der Wünsche und Gefühle dem Individualleben an, nicht der gesellschaftlichen Mitlebensform.

Nach Landauer ensteht die Utopie gerade als Teil des Individuallebens und erst in einem (revolutionären) Prozess entwickelt sich daraus die gesellschaftliche Umgestaltung des Mitlebens. Arkadien kann also durchaus eine Utopie sein. Dafür muss die Idee selbst nicht auf die Zukunft ausgerichtet sein. Auch rückwärtsgewandte, nostalgische Ideen können sich als wirkungsmächtig für die Zukunft erweisen. Ein klassisches Beispiel ist die Renaissance, die als Wiedergeburt der Antike ihre Rückwärtsgewandtheit schon im Namen trägt. Im historischen Rückblick erscheint sie uns gleichwohl als Inbegriff einer innovativen Epoche, des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit.

Udo Leuschner beschreibt diese potentiell fortschrittliche Nostalgie auf seinen Webseiten Sehn-Sucht. 26 Studien zum Thema Nostalgie :

In der Nostalgie werden utopische Hoffnungen aber nicht nur zurückgedrängt. Zugleich erneuern sich in ihr diese utopischen Hoffnungen. So kann die Entdeckung und Verehrung der Antike, die an der Wiege der Neuzeit steht, als eine großartige Nostalgie begriffen werden: Sie war die erneuerte Sehnsucht nach dem Goldenen Zeitalter, die sich zeitweilig in der christlichen Erlösungslehre verpuppt hatte. Sie löste dieses Goldene Zeitalter vom Reich Gottes, das die Kirche inzwischen ins Zeitlos-Überirdische entrückt hatte, und verpflanzte es wieder auf die Erde zurück. – Zunächst nur in die antike Vergangenheit oder in den zeitlosen Topos Arkadiens, aber die Verlegung des Goldenen Zeitalters in die Zukunft war darin schon latent inbegriffen und der Wille zur Verwirklichung nur suspendiert.

Die Idee von Arkadien kann als Teil und legitimes Kind der Renaissance gesehen werden, denn als Rückbesinnung auf die antike Literatur hat sie in dieser Zeit neue und gewaltige Wirkung entfaltet – wie praktisch gleichzeitig auch die neuzeitliche Utopie, die ursprünglich auch nicht mit der Vorstellung verbunden war, dass sich die Geschichte auf sie zubewege. Diese Idee ist erst im fortschrittsgläubigen 18. Jahrhundert entstanden.

Wenn wir weiter Landauers Gedankengang folgen, so wird eine Utopie nie in dem Sinn realisiert, dass sie selbst zu gesellschaftlicher Wirklichkeit wird. Aus jeder utopisch-revolutionären Umwälzung entsteht immer nur eine neue Topie. Aber es bleibt natürlich die Frage, wie eine derartige Umsetzung aus dem Bereich des Individuallebens in eine Mitlebensform erfolgen kann oder grundsätzlicher wie das Verhältnis zwischen beiden zu denken ist. In jeder menschlichen Gesellschaft. die auf Arbeit angewiesen ist, wird ihre gerechte Verteilung immer ein Thema sein. Wie wir gesehen haben, ist dieses Thema in Arkadien ausgespart, so dass das arkadische Leben als ein müßiggängerisches erscheint. Wenn wir Arbeit als die Art von Tätigkeiten betrachten, die um eines anderen willen getan werden, die also lediglich Mittel sind, dann ist das durchaus folgerichtig, denn in einer Wunschwelt werden die Tätigkeiten dominieren, die um ihrer selbst willen wert sind, getan zu werden, also Selbstzwecke sind. Für eine Umsetzung muss beides in irgendeiner Form versöhnt werden. Friedrich Schiller hat sich dies als Versöhnung von Vernunft und Sinnlichkeit zum Thema gemacht, insbesondere in seiner Schrift Naive und sentimentalische Dichtung(1795). Im Zentrum steht das sentimentalische Gefühl. Der naive Mensch, wie nach Schiller das Kind oder der antike Mensch, ist „einig mit sich selbst und glücklich im Gefühl seiner Menschheit“. Dagegen sind „wir“ – die modernen Menschen und die sentimentalischen Dichter „uneinig mit uns selbst und unglücklich in unsern Erfahrungen von Menschheit“.

Der nicht so einfache Zugang zum Konzept des Sentimentalischen erschließt sich über ein Bild:

Unser (sentimentalisches) Gefühl für Natur gleicht der Empfindung des Kranken für die Gesundheit. Unser Gefühl ist also nicht das, was die Alten hatten; es ist vielmehr einerlei mit demjenigen, welches wir für die Alten haben. Sie empfanden natürlich; wir empfinden das Natürliche.

Der empfundene Verlust der Vollkommenheit soll für Schiller nicht Anlass werden, in die individuelle oder menschheitliche Vergangenheit zurückkehren zu wollen, sondern diese Vollkommenheit zukünftig in anderer Weise wieder herzustellen. (Letztes Wort)

(Der sentimentalische Dichter) verschmähe den unwürdigen Ausweg, den Gehalt des Ideals zu verschlechtern, um es der menschlichen Bedürftigkeit anzupassen, und den Geist auszuschließen, um mit dem Herzen ein leichteres Spiel zu haben. Er führe uns nicht rückwärts in unsre Kindheit, um uns mit den kostbarsten Erwerbungen des Verstandes eine Ruhe erkaufen zu lassen, die nicht länger dauern kann als der Schlaf unsrer Geisteskräfte; sondern führe uns vorwärts zu unsrer Mündigkeit, um uns die höhere Harmonie zu empfinden zu geben, die den Kämpfer belohnet, die den Überwinder beglückt, Er mache sich die Aufgabe einer Idylle, welche jene Hirtenunschuld auch in Subjekten der Kultur und unter allen Bedingungen des rüstigsten feurigsten Lebens, des ausgebreitetsten Denkens, der raffiniertesten Kunst, der höchsten gesellschaftlichen Verfeinerung ausführt, welche, mit einem Wort, den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach Arkadien zurückkann, bis nach Elysium führt.

2 Kommentare zu „Eine andere Utopie: Arkadien!“

  1. dein vortrag macht richtig laune, sich „arkadien“ weiter anzunähern, besser: ein für mich neues thema mit grossem interesse anzugehen.
    deine zusammenschau einiger geistiger väter (inspirierende mütter dürfte es sicher auch geben!) ist ein
    toller einstieg, für weiterführende leseempfehlungen besten dank schonmal im voraus.
    peter lechner

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