Schafe auf dem Tempelhofer Feld!

Vor mehr als einem Jahr gab es auf diesem Blog schon die fordernde Überschrift „Schafe auf das Tempelhofer Feld!“. Dort kann man zu den Hintergründen dieser Forderung nachlesen. Jetzt kann – mit Einschränkung – schon Vollzug gemeldet werden (vgl. die jetzige Überschrift): am Sonntag, dem 14. Oktober 2018, kam die erste Hälfte einer zweihundertköpfigen Herde an und begann umgehend mit der Beweidung des Tempelhofer Feldes. Die Einschränkung ist allerdings eine gewichtige. Die Beweidung unter dem Motto „Schäfchen zählen“ ist nur ein einwöchiges Experiment. Aber allein die Tatsache, dass dies erreicht werden konnte, macht Hoffnung auf eine dauerhafte Lösung. Ein Bericht über das Ereignis findet sich auf dem Blog von Elisabeth Meyer-Renschhausen. Dem brauche ich nichts hinzufügen – außer einer Textfassung dessen, was ich als Hintergrundinformation zum Geschehen beisteuerte:

Hirtenkulturen

Weidetiere und Hirtenkultur

Wir stehen heute möglicherweise am Ende einer Tradition, die die menschliche Kultur seit ihren Anfängen begleitet hat: die Gemeinschaft mit Weidetieren. Unsere Gemeindehirten gibt es nicht mehr. Allmenden als gemeinschaftliche Weiden wurden aufgelöst, Hutrecht und -pflicht abgeschafft. Die in vielen Ländern noch solidarisch lebenden und wirtschaftenden nomadischen Hirtenkulturen sind bedroht durch Grenzziehungen, Landgrabbing, Bewässerungsprojekte und Klimawandel.

Nur selten machen wir uns klar, dass das Hirtenwesen die Menschheit so lange begleitet hat, wie von Kultur ernsthaft die Rede sein kann. Es war und ist nicht ein Randphänomen einer ihrerseits schon verschwindenden bäuerlichen Kultur, sondern ein zentraler Bestandteil unserer abendländischen Kultur.

Hirten und Hochkultur

Vor mehr als zehntausend Jahren begannen im „fruchtbaren Halbmond“ in Kleinasien Menschen Feldfrüchte anzubauen und sesshaft zu werden. Etwa zur gleichen Zeit fingen sie auch an, Tiere zu zähmen und in Herden zu halten. In unseren Breiten wurden sie von dort eingeführt, Ziegen und Schafe gab es als Wildtiere in Europa nicht.

Dörfer bildeten sich und sehr schnell auch große und sehr große Städte – und die mächtigen Reiche des Vorderen Orients. Aber beides war nicht ohne Zusammenhang. Die frühen europäischen Kulturen in Kreta und Mykene mit ihren prächtigen Palästen beruhten auf dem Reichtum ihrer Herden. In dieser mykenischen Periode entstand eine prachtvolle Palastkultur mit kultureller Blüte und intensivem Handel. Sie beruhte auf Schafhaltung. Etwa 90000 Schafe des Palastes erzeugten jährlich 70000kg Wolle. Die Paläste verfügten über riesige Ländereien und eine Buchhaltung mit einer eigens dafür entwickelten Schrift (LinearB), dem Ursprung unserer Alphabetschrift. Die Linear B-Tafeln sind das einzige Zeugnis über ein komplexes agropastorales System im prähistorischen Europa. Da die ungebrannten Tafel durch den Brand des Palastes von Knossos gebrannt wurden, überliefern sie uns Details über die dortige Weidewirtschaft. Die Schafherden waren aber auch der Anfang von Geld, Eigentum und Kapital: pecus (lat. für Vieh) wurde zu pecunia (Geld) und die Häupter der Herde (lat. caput) zu Kapital.

Hirtenwesen in Mythos und antiker Literatur

Hauptbedingung für die erfolgreiche Haltung dieser Herden war der Zugang zu frischer Weide. Dazu schreibt Vergil:

Aber sobald mit dem Ruf des Wests der lachende Sommer
Beide Herden hinaus in die Weiden und Wälder gelockt hat,
Lasst mit dem frühsten Strahl des Morgengestirns in die kühlen
Fluren uns ziehn, wenn der Morgen noch jung, die Wiesen noch grau sind,
Tau noch die frischen Gewächse bedeckt, was die Herde so gern hat.

Angesichts dieser Bedeutung überrascht es nicht, dass das Hirtenwesen auch in Religion, Mythos und Literatur eine große Rolle spielte. In Homers Ilias wird fast so viel über Herden wie über Kriege geschrieben. Das bedeutendste altirische Epos heißt übrigens „Der Rinderkrieg“.

Allerorten finden sich in den Schriften wirkliche und mythische Hirten, angefangen von Gilgamesch, dem Hirten von Uruk, über den Hirtenknaben, der dann der biblische König David wird, bis zu Paris, der durch sein Urteil im Schönheitsstreit dreier Göttinnen den trojanischen Krieg auslöst. Und natürlich gibt es auch Hirtengötter, so den Pan Arkadiens oder den römischen Herkules. Nicht zu vergessen, dass das Christentum sich Jesus als den guten Hirten vorstellt.

Blütezeiten des Hirtenwesens und der Kultur waren dann wieder die griechische und römische Antike und später die Renaissance. Die Kuppel des Doms von Florenz wurde von der Gilde der Wollhändler finanziert.

Die Antike wusste auch bereits viel über die Bedürfnisse, Gefährdungen und Krankheiten der Tiere – und dieses praktische Wissen tauchte in den Werken der größten Dichter auf – so bei Hesiod, Vergil und Ovid.

Nur zwei Beispiele:

Hirte, reinige die Schafe in der ersten Dämmerung! … lass dunklen Rauch aus reinem Schwefel aufsteigen, und die Schafe sollen blöken, vom qualmenden Schwefel berührt. Verbrenne Rosmarin, eine Fackel und Kräuter aus dem Sabinerland ..

(Ovid)

Auch der Krankheiten Gründe und Zeichen will ich Dich lehren. / Häßliche Räude sucht heim das Schaf, wenn eiskalter Regen / Tiefer ins Lebende dringt und starrender Winter mit grauem / Froste, oder wenn den Geschorenen der Schweiß blieb haften / Unabgewaschen

(Heilmittel:) Oder man schmiert den geschorenen Leib mit dem bitteren Ölschaum / Und mischt Silberglätte dazu und natürlichen Schwefel, / Pech vom phrygischen Ida und fette, wächserne Salbe, / Meerzwiebeln auch, betäubende Nieswurz und schwärzliches Erdharz

(Vergil)

Komplexe Weidewirtschaft

Aber auch die Hirtenkultur selbst ist komplexer als wir sie uns vielleicht vorstellen. So wurden seit der Antike in der sogenannten Transhumanz die Tiere in jahreszeitlichem Wechsel über große Strecken, teilweise über mehrere hundert Kilometer, getrieben, um klimatisch und hinsichtlich der Nährstoffe optimale Bedingungen zu erhalten.

Transhumanz über lange Strecken erfordert eine komplexe Organisation und territoriale Kontrolle. Sie ist nicht zu verwechseln mit den nomadischen Formen der Wanderwirtschaft, wo die Hirten ohne festen Wohnsitz stets mit den Herden ziehen. Während diese in der Tat teilweise von schwacher Staatlichkeit profitieren, beruht die Transhumanz, anders als in romantischen Vorstellungen, in der Regel auf staatlichen Strukturen. Im römischen Reich gab es in Italien ein staatliches System von Weidewegen (regio tratturo) und -stationen (taverna). Diese verfielen in Völkerwanderungzeit und frühem Mittelalter. Sie wurden in Süditalien von Friedrich II. (1231) und in Mittelitalien von den Päpsten (Dogana dei Pascoli 1289) wieder installiert, kamen dann in der Renaissance unter den Spaniern zu einem neuen Höhepunkt. Heute erfolgt die Transhumanz meist per Lastwagen (ein Vormittag statt 1 Monat).

Auch in Mitteleuropa gab es bereits seit dem späten Mittelalter Wanderungen von Weidetieren über weite Strecken. So zogen Rinderherden aus Ungarn und Südpolen über Süddeutschland bis ins Rheinland. Die Finanzierung dieses Fernhandels bildete eine frühe Quelle des Reichtums des Nürnberger Patriziats.

Ein anderer prägender und nach wie vor interessanter Aspekt der Hirtenkultur war die Allmende (Hutweide, Espan etc.) , der gemeinsame Grund, auf dem die Tiere weideten und der der Gemeinschaft gehörte und von ihr gepflegt wurde. Mit der Rinderweide auf den Hutangern sind auch diese Allmenden zu einem Ende gekommen.

Fortschritt – oder nicht

Nun kann man das alles als den notwendigen Preis des Fortschritts betrachten. So wurde das auch gesehen seit (in Deutschland etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts) die Allmenden und die extensive Weidewirtschaft zugunsten der effektiveren intensiven Stallhaltung aufgegeben wurde. Aber heute wird diese Sichtweise nicht mehr allgemein geteilt. Wir bemerken, dass an dieser Entwicklung damals und heute nicht nur wissenschaftlicher Fortschritt, sondern auch wirtschaftliche Interessen beteiligt waren. Wir erkennen wieder die Vorteile der Weidehaltung und bezweifeln, dass die Effektivität der Massenmast- und -schlachtanlagen, in der aus Haustieren Nutzobjekte in Tierfabriken werden, wirklich die Zukunft unserer Ernährung sein muss.

Weidetiere stehen nicht in Nahrungsmittelkonkurrenz zum Menschen. Als Wiederkäuer müssen sie nicht mit der Nahrung gefüttert werden, die auch Menschen zuträglich ist und die als Futtermittel (Soja, Mais) heute meist aus den Ländern des Südens eingeführt wird. Schlimmer noch: Aufgrund ihres Verdauungssystems ist diese Nahrung für Wiederkäuer vollkommen ungeeignet und führt zu vermehrten Methan- und CO2-Emissionen. Diese sind der Massentierhaltung, aber nicht generell den grasenden Milchkühen anzulasten.

Nicht ohne Grund wird gesagt, die Weide sei die Mutter des Ackers. Die fruchtbaren Schwarzerdböden der Erde sind durch die wilden Weidetiere wie Wisent oder Bison entstanden. Entsprechend tragen auch die domestizierten Weichtiere zur Bodenfruchtbarkeit bei.

Ökologisch gesehen bildet daher die extensive Weidewirtschaft in ihren nomadischen und sesshaften Formen eine wichtige Ergänzung und auch Grundlage bäuerlicher Landwirtschaft. Gegenwärtig scheint die Entwicklung überall noch in die Richtung weiterer Intensivierung zu gehen, die allenfalls noch Nutztiere und keine Haustiere mehr kennt. Überall? Es gibt schon einige Orte, wo eine Wiederbeweidung erfolgreich eingesetzt hat. Wir hoffen, dass das Tempelhofer Feld bald dauerhaft dazu gehören wird.

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