Rosas Revolutionäre Romantik

Zugegebenermaßen eine etwas kesse Titelfloskel, aber mit einem ernsthaften Inhalt. Rosa Luxemburg hat sich ja nicht nur mit den Allmenden in Nordafrika befasst, sondern weltweit, namentlich in Mitteleuropa, Russland, Indien, Nord- und Südamerika sowie Australien. Sie spielen eine zentrale Rolle in ihrer ökonomischen Theorie.

Unsere Kenntnisse über die ältesten und primitivsten Wirtschaftsformen sind sehr jungen Datums. Noch im Jahre 1847 schrieben Marx und Engels in der ersten klassischen Urkunde des wissenschaftlichen Sozialismus, im Kommunistischen Manifest: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen«. Gerade um dieselbe Zeit, wo die Schöpfer des wissenschaftlichen Sozialismus diese Auffassung kundgaben, begann sie auch schon von allen Seiten durch neue Entdeckungen erschüttert zu werden.

[…]In den Jahren 1851 bis 1853 erschien in Erlangen das erste der epochemachenden Werke Georg Ludwig von Maurers, die »Einleitung zur Geschichte der Mark, Hof, Dorf und Stadt-Verfassung und der öffentlichen Gewalt«, die ein neues Licht auf die germanische Vergangenheit und auf die soziale und ökonomische Struktur des Mittelalters warf. Schon seit einigen Jahrzehnten war man an einzelnen Orten, bald in Deutschland, bald in den nordischen Ländern, auf der Insel Island, auf merkwürdige Überbleibsel uralter ländlicher Einrichtungen gestoßen, die auf das ehemalige Bestehen eines Gemeineigentums an Grund [und] Boden an jenen Orten, eines Agrarkommunismus hinwiesen.

RL Einführung in die Nationalökonomie III/1

Rosa Luxemburg spricht immerhin davon, dass Auffassungen des Kommunistischen Manifests durch diese Entdeckungen eines romantischen Historikers erschüttert werden. Ihre „Einführung“ ist also nicht die didaktische Arbeit, als die sie manchmal dargestellt wurde, sondern eine grundlegende Auseinandersetzung, die für die marxistische Theorie wichtig ist, weil sie eine Lösung für das bei Marx und auch schon in der bürgerlichen Ökonomie bestehende Problem zu liefern beansprucht, wie nämlich der Mehrwert konsumiert werden kann. Nach RL kann er das nur, weil und solange es außerkapitalistische Bereiche gibt, die diesen Konsum übernehmen – und die damit „angenagt“ und schließlich zerstört werden. Zu diesen Bereichen gehört die Allmendewirtschaft.

Ich möchte aber vor allem auf zwei (oder drei) andere Punkte hinweisen, die bei Rosa Luxemburg neu sind gegenüber der marxistischen Tradition. Das ist zum einen die andere und positivere Einstellung gegenüber traditionellen Gesellschaftsformen und die damit verbundene Skepsis gegenüber einem einseitigen Fortschrittsdenken. Die Sympathie für Formen der Vergangenheit und die Sehnsucht nach ihrer Wiederkehr gelten ja mit Recht als Kennzeichen der Romantik. Rosa Luxemburg ist natürlich nicht einfach eine Romantikerin. Sie hebt an vielen Stellen die Zwänge und Unterdrückungen traditioneller Lebensformen hervor. Aber dieses Wissen und die Überzeugung von der Notwendigkeit gesellschaftlicher Fortschritte machen sie nicht blind gegenüber den Qualitäten vergangener Lebens- und Wirtschaftsformen und den Verlusten, die mit ihrem Verschwinden oder ihrer Abschaffung verbunden sind. Vgl. dazu Michael Löwy – Der Urkommunismus in den ökonomischen Schriften von Rosa Luxemburg – Für eine romantisch-revolutionäre Geschichtsauffassung (1989)

Man kann sich nichts Einfacheres und Harmonischeres zugleich vorstellen als dieses Wirtschaftssystem der alten germanischen Mark. Wie auf flacher Hand liegt hier der ganze Mechanismus des gesellschaftlichen Lebens. Ein strenger Plan, eine stramme Organisation umfassen hier das Tun und Lassen jedes einzelnen und fügen ihn dem Ganzen als ein Teilchen ein. Die unmittelbaren Bedürfnisse des täglichen Lebens und ihre gleichmäßige Befriedigung für alle, das ist der Ausgangspunkt und der Endpunkt der ganzen Organisation. Alle arbeiten gemeinsam für alle und bestimmen gemeinsam über alles. Woraus fließt aber und worauf gründet sich diese Organisation und die Macht der Gesamtheit über den einzelnen? Es ist nichts anderes als der Kommunismus an Grund und Boden, das heißt gemeinsamer Besitz des wichtigsten Produktionsmittels durch die Arbeitenden. Die typischen Züge der agrarkommunistischen Wirtschaftsorganisation kommen jedoch am besten zum Vorschein, wenn man sie vergleichend auf internationaler Basis studiert, um sie somit als Weltform der Produktion in ihrer historischen Mannigfaltigkeit und Biegsamkeit zu erfassen.

RL Einführung in die Nationalökonomie IV/1

RL ist auch für ein anderes problematisches Kennzeichen romantischer Auffassungen nicht anfällig: die Beschränkung auf eine nationale Perspektive. Während andere in der Mark oder Allmende schnell ein germanisches Alleinstellungsmerkmal zu entdecken meinen, sieht sie sich in der Welt um – und entdeckt Allmenden und Urkommunismus überall. Dies ist nun ihre zweite Neuerung: Gegenüber der Vergangenheit nicht blind zu sein, ermöglicht ihr einen vorurteilsfreieren Blick auf die Gesellschaften des globalen Südens und ihre traditionelleren Wirtschaft- und Lebensformen. Die Unterdrückung dieser Länder haben natürlich auch andere gesehen, aber sie nimmt in aller Deutlichkeit die Verluste wahr, die gerade in der Zerstörung der traditionellen Gesellschaftsformen liegen. Nicht nur Ressourcen und Arbeitskraft werden geraubt, sondern Möglichkeiten einer geborgenen Existenz vor und außerhalb des bürgerlichen Kapitalismus.

Es gibt noch eine dritte Modernität. Das (m. E. zu Recht) gefeiertste Sachbuch des letzten Jahres war wohl „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“ von David Graeber. Eine Ursache für den Erfolg war, dass sich hier ein gelernter Anthropologe nicht nur in ökonomischen Modellen bewegt (die er aber auch kennt), sondern diese an einem reichhaltigen historischen und ethnologischen Wissen prüft. Genau dadurch hebt sich auch Rosa Luxemburg von anderen Ökonomen ihrer Zeit ab. Sie macht reale Gesellschaften zur Basis ihrer Theorie. Auch im Detail hat ihre Aufmerksamkeit auf eine Fülle divergierender und unerwarteter sozialer Einrichtungen eine frappante Ähnlichkeit mit dem Vorgehen Graebers. Anders gesagt: sie widerlegen die Alternativlosigkeit der herrschenden Modelle. Und eigentlich ist das ja auch das Erfolgsrezept von Elinor Ostrom (Verfassung der Allmende). Sie setzt sich mit den spieltheoretischen Modellen zur Allmendewirtschaft auch theoretisch auseinander, aber das Neue ist, dass sie anhand mannigfaltiger Beispielen auf deren Wirklichkeit schaut – und so die Fehler im Modell entdeckt.

Gerade diese empirische Vielfalt ist aber in der Beschränktheit dieses Blogs nicht wiederzugeben, ja nicht einmal anzudeuten gewesen. Aber sie findet sich, wenn man Rosa Luxemburg liest. Die ausführlichste Darstellung ist das 27. Kapitel der Akkumulation des Kapitals: Der Kampf gegen die Naturalwirtschaft. Als Einstieg in ihren theoretischen Hintergrund sind aber fast noch besser die wirtschaftsgeschichtlichen Abschnitte in der fragmentarisch gebliebenen Einführung in die Nationalökonomie geeignet.

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