Psychologie

Laucken: Naive Verhaltenstheorie

Die „Um zu“-Form naiver Verhaltenstheorie

Für Lauckens Arbeit „Naive Verhaltenstheorie“1 gilt in besonderem Maße, was für die psychologische Diskussion des Zweck-Mittel-Schemas ganz allgemein gilt, nämlich daß sie sowohl als fachwissenschaftliche Untersuchung zweckrationalen Verhaltens wie auch als methodologische Auseinandersetzung über den Status zweckrationaler Erklärungsweisen in den Wissenschaften selbst interessant ist. Laucken stellt die „naive Verhaltenstheorie“ als das Gesamtkonzept alltäglicher Handlungsdeutung den Erklärungsmethoden der Wissenschaft gegenüber. Er will damit nicht nur zwei Bereiche beziehungsweise Anwendungsfelder unterscheiden, sondern zwei grundlegend divergente Erklärungskonzepte. Während die Wissenschaft dem hypothetisch-deduktiven Muster folgt, bedient sich die alltägliche Handlungserklärung des Zweck-Mittel- Schemas. Laucken behauptet nicht, daß Handlungen dem alltäglichen Verständnis nach nur durch Zwecke bestimmt seien. Er sieht auch den Einfluß von Emotionen, Neigungen und Normen. Gleichwohl bleibt in der naiven Verhaltenstheorie die Zweckgerichtetheit konstituierend:

„Ein Alltagspsychologe erklärt die Handlung einer Person, indem er zeigt und plausibel macht, daß die handelnde Person ein bestimmtes Ziel vor Augen hat. Um dieses Ziel zu erreichen, handelt die Person.“ (5.66) „(Nach genauerer Analyse) wird man bemerken, daß alle diese Beispiele nur dann befriedigende Erklärungen sind, wenn man als Alltagspsychologe gleichsam stillschweigend mitdenkt, daß die Person, deren Handlung es zu erklären gilt, ihr Tun als ein taugliches Mittel zur Realisierung des jeweils genannten Zieles erachtet. Die jeweilige Mittelfunktion einer Handlung gesondert aufzuführen erübrigt sich zumeist in alltäglichen explanativen Dialogen, da aufgrund eines gemeinsamen Wissensfundus , zu dem u.a.die naive Psychologie gehört, vorausgesetzt werden kann, daß dem erkärungssuchenden Gesprächspartner die Mittelfunktion klar ersichtlich ist.“ (S.6 7)

Laucken nennt dies im Anschluß an Schütz2 die „Um zu“- Form alltäglicher Erklärung und er erläutert an einer Reihe von Beispielen, daß diese nicht nur dort wirksam ist, wo sie sich schon in der sprachlichen Formulierung zeigt, sondern gerade auch dort unterstellt wird, wo sie auf den ersten Blick nicht erkennbar ist: beispielsweise wenn Sachzwänge angegeben werden, die strenggenommen vorrangige Ziele darstellen oder wenn als Begründung für Handlungen Informationen gegeben werden, die zwar selbst keine Ziele formulieren, die aber nur durch den Bezug auf ein als bekannt vorausgesetztes Ziel in ihrer Handlungsrelevanz verständlich werden. In der „Um zu“-Erklärung wird – Laucken zufolge – angenommen, daß der Handelnde ein Ziel verfolgt und daß er die Handlung als ein geeignetes Mittel zu dessen Errreichung betrachtet. Im einzelnen bedeutet dies, daß er eine Vorstellung von seiner jetzigen Situation hat und sie als von der Zielsituation diskrepant beurteilt. Ferner verfügt er über ein „Wenn-Dann“-Wissen über das erwartete Eintreten von Handlungseffekten sowie über weiteres Situationswissen. Beides zusammen erlaubt ihm die Beurteilung von Handlungen hinsichtlich ihrer Geeignetheit zur Zielerreichung. Die Gültigkeit der Handlungsdeutung ist nicht abhängig von der Richtigkeit des benutzten Wissens, sondern bestimmt sich unabhängig davon nach dem jeweiligen Wissensstand des Handelnden, genauer nach dem Wissen, das diesem zum jeweiligen Zeitpunkt präsent ist. Gerade der Hinweis auf irriges, nicht vorhandenes oder nicht aktualisiertes Wissen kann mithin eine Handlungsdeutung einleuchtend machen. Implizit ergibt sich aus den gegebenen Bestimmungen zweckrationaler Handlungsdeutung auch, daß Handeln stets als auf eine Situationsveränderung angelegt betrachtet wird.

Zweck-Mittel-Modell

Die Wahl des Ziels ist diesem Konzept zufolge der Planung der Handlung „sachlogisch vorgeordnet“ (S.84). Diese Festlegung erlaubt es, das Ziel als den Haupteffekt der Handlung von ihren nicht von Anfang an als Zielpunkten einbezogenen Nebeneffekten zu unterscheiden. Diese wiederum sind nicht gleichzusetzen mit den Folgeeffekten der Zielerreichung. Während diese bei vorgegebenem Ziel stets eintreten und deshalb für alle als Mittel tauglichen Handlungen gleich sind, unterscheiden sich die Nebeneffekte bei alternativ möglichen Handlungen. Ihre Beurteilung ist deshalb relevant für die Wahl unter verschiedenen Handlungen. Dieses Abwägen berücksichtigt die Auftretenswahrscheinlichkeit des fraglichen Effekts und seine Valenz, also die ihm subjektiv von seiten des Handelnden zugeschriebene Wünschbarkeit. Diese Effektprognose verkehrt sozusagen die Grundsituation der Handlungsplanung. Wird bei dieser für ein vorgegebenes Ziel nach tauglichen Handlungen als Mittel gesucht, werden nun bei der Beurteilung eines Handlungsentwurfs für eine vorgegebene Handlung deren mögliche Wirkungen untersucht. Gleich bleibt natürlich die beide Komponenten verbindende „instrumenteile Relation“ (S.92).

Laucken trennt sehr stark zwischen Planung und Beurteilung eines Handlungsentwurfs. Er unterscheidet dementsprechend auch zwischen Ziel (als Zielzustand) und Zielvalenz, ist sich aber dessen bewußt, daß er in diesem Punkt mit dem alltäglichen Selbstverständnis zweckorientierter Handlungsdeutung nicht übereinstimmt. Während dieser davon ausgeht, daß ein Ziel immer auch ein subjektiv gewünschter Zustand sei, legt Laucken Wert darauf, daß für die Handlungsplanung – im Unterschiede zur Beurteilung – ein Bezug auf die Zielvalenz nicht nötig sei: es genüge die „ZieIvorstellung“ als eine kognitive Repräsentation des betreffenden Zustands und das Wissen des Handelnden, daß seine gegenwärtige Situation davon abweicht. Allerdings wird im weiteren Verlauf diese strenge Trennung zwischen Planung und Beurteilung eingeschränkt und zugestanden, daß beispielsweise die Prognose und Bewertung von Nebeneffekten in die Handlungsplanung einfließt. Es wird aber nicht deutlich, wie weit die dadurch erzwungenen Modifikationen des Grundkonzepts reichen, inwieweit dadurch beispielsweise der sachlogische Vorrang der Zielwahl gegenüber der Handlungsplanung eingeschränkt wird.

Ziele können in mehrerer Hinsicht verschiedenen Status haben. Zum einen werden die von vornherein ins Auge gefaßten Leittziele unterschieden von Nebenzielen, die als positiv oder negativ bewertete erst bei der Abwägung der Nebeneffekte von Handlungen in den Blick kommen. Neben Zwisehenzielen, die jeweils der Erreichung anderer Ziele dienen, gibt es Eigenziele – Selbstzwecke in anderer Terminologie – die nicht der Verfolgung übergeordneter Ziele dienen sollen und die nicht durch die Rückführung auf solche, sondern erforderlichenfalls eher durch den Verweis auf persönliche Dispositionen oder ähnliches begründet werden. Davon ist wiederum zu unterscheiden, daß Ziele mehr oder weniger konkret gefaßt werden können:Relativ“abstrakte“Rahmenziele

müssen erst konkretisiert werden, ehe ein detaillierter Handlungsentwurf möglich ist. Dabei können für je einzelne Ziele nicht nur alle möglichen Kombinationen aus den unterschiedlichen Kategorien zutreffen, es kann auch ein bestimmtes Ziel in einem Handlungszusammenhang ein Leit- in einem anderen ein Nebenziel darstellen.

Alltägliches und wissenschaftliches Handlungsverständnis

In mancher Hinsicht verkörpert das hier dargelegte „alltägliche“, an Zielen orientierte Handlungsverständnis das gerade Gegenteil des nach Laucken für die Wissenschaft repräsentativen hypothetisch-deduktiven Schemas, das mit gewisser Einschränkung 3 als ein kausalistisches Modell betrachtet werden kann. Dabei ist die als Unterschied von kausaler und finaler Erklärung früher heiß diskutierte Tatsache, daß der Zweck zeitlich nach der Handlung, die Ursache aber vor ihrer Wirkung liegt, weniger von Belang. Wesentlicher ist für das Zweck-Mittel-Verständnis, daß nicht die tatsächlich erreichten Ziele und nicht die faktischen Wirkungszusammenhänge zwischen Handlung und Zweck, sondern das vorgestellte Ziel sowie das – möglicherweise auch irrige – Wissen um die Wirkungszusammenhänge entscheidend für die Zuschreibung eines Zwecks zu einer Handlung sind. Die alltägliche Deutungspraxis und die ihr folgenden Methodologien greifen in maßgeblicher Weise auf das Wissen und die Überlegungen der handelnden Person zurück. Die Erklärung stellt eine Rekonstruktion dieser Überlegungen dar. Dagegen versucht ein kausalistisches Vorgehen sich zugunsten größerer Objektivität von eben diesen Vorgaben möglichst frei zu machen. Laucken zitiert Hull, der von einem Wissenschaftler fordert, seinen Probanden zu betrachten als „einen sich vollständig selbst erhaltenden Roboter, der aus Materialien konstruiert ist, die uns selbst so unähnlich wie nur möglich sind“ 4 Nach Maslow bedeutet diese Art des Vorgehens, „daß man auf ein Etwas schaut, das nicht ist wie Du, das nicht Mensch, nicht Person ist, es ist ein Etwas, das von dir – dem Beobachter – völlig unabhängig ist. Es ist ein Etwas, dem Du wie ein Fremder gegenüberstehst. … Du – der Beobachter – hast keinerlei Beziehung zu diesem Etwas, du kannst es nicht verstehen und empfindest ihm gegenüber weder Sympathie, noch identifizierst du dich mit ihm.“ 5

Laucken steht dieser Position nicht ohne Kritik gegenüber. Er bezieht sich auf Kelly 6, wenn er moniert, so werde eine Zwei-Klassengesellschaft eingerichtet, in der die Wissenschaftler sich zwar selbst als verständige, nach Zielen strebende Menschen betrachten, den Probanden aber eben diesen Status nicht zugestehen wollen. Außer an dem darin zum Ausdruck kommenden Verlust an Reflexivität übt Laucken (5.47ff.) in einer Reihe weiterer Punkte teils massive Kritik hinsichtlich der mangelnden Berücksichtigung alltagstheoretischen Wissens. Er bezieht sich dabei, an Düker und Holzkamp anknüpfend, auf die Tendenz, zugunsten der besseren Bedingungskontrolle die jeweilige Weitsicht der Betroffenen als Störfaktoren zu eliminieren. „Das Alltagswissen fiel der Bedingungskontrolle zum Opfer, es wurde als externer Störfaktor eliminiert, um damit zu den eigentlichen (?) Verhaltensdeterminanten vorzustoßen.“ (S.50) Damit einher geht die Neigung, – dem Selbstverständnis nach vorläufig – das Einfache statt des Komplexen zu untersuchen oder Themen gar nicht in Angriff zu nehmen, bei denen die experimentelle Überprüfung als schwierig erscheint. 7 Von erheblicher Relevanz für die methodologische Diskussion sind zwei weitere Punkte, die Laucken kritisiert: zum einen das Mißtrauen gegen Introspektion und darüber hinaus gegen den Rückgriff auf sprachliche Äußerungen des Probanden, wenn auch letztere heute von keinem Psychologen mehr rundweg als Untersuchungsgrundlage abgelehnt werden; zum andern die durch die Darwinsche Evolutionstheorie initiierte Parallelisierung von Mensch und Tier, die zur Konzentration auf die Fähigkeiten führt, die bei Mensch und Tier vergleichbar sind und die Charakteristika der Dezendenzstufe des Menschen ausklammert.

Zwiespältigkeiten

Angesichts dieser kritischen methodologischen Haltung könnte man erwarten, daß Laucken prüft, inwieweit die von ihm herausgearbeitete Zweck-Mittel-Struktur alltäglicher Handlungserklärung auch als wissenschaftliche Alternative zum hypothetisch-deduktiven Schema in Betracht kommt. Daß er dies nicht ernsthaft versucht, muß vor dem Hintergrund einer Ambiguität gesehen werden, die das ganze Buch durchzieht und der Arbeit Ähnlichkeit mit jenen Vexierbildern verleiht, die je nach Betrachtungsweise alte oder junge Frauen, Gesichter oder Körper darstellen und die gerade auch die Psychologen schon um die Jahrhundertwende faszinierten. Aus dem Blickwinkel des Wissenschaftstheoretikers stellt sich „Naive Verhallenstheorie“ von Laucken zunächst als methodologische Abhandlung dar, nicht nur weil die Arbeit vertraute Themen wie zweckorientierte und hypothetisch-deduktive Handlungserklärung, Prüfbarkeit und Konsistenz von Theorien behandelt, sondern auch weil sie auf einschlägige Autoren und Diskussionszusammenhänge verweist, so auf Schütz und Goffman, Carnap und Toulmin, auf kritischen Rationalismus und analytische Handlungsphilosophie. Auch Art und Gebrauch der herangezogenen Beispiele, die – wie in analytischer Philosophie und Wissenschaftstheorie üblich – eher eine Mischung von konstruierten Anwendungsfällen und alltäglicher Lebenserfahrung darstellen als empirisch erhobene Argumentationsmuster, verstärken diesen Eindruck. 8 Dem eigenen Anspruch nach bildet sie jedoch einen „Ansatz zur Analyse des Konzeptrepertoires, mit dem im alltäglichen Lebensvollzug das Verhalten der Mitmenschen erklärt und vorhergesagt wird“, wie im Untertitel formuliert wird, was nun eher auf eine – den fachüblichen methodologischen Rahmen im wesentlichen voraussetzende – empirische Untersuchung alltäglicher Handlungserklärung hindeutet .

Mehr noch als vom Autor wird diese Sichtweise im Vorwort von Kaminski betont, der – während er die vorhergehenden Teile „zwar interessant und anregend, aber gewissermaßen eher harmlos-akademisch“ findet – die Hauptleistung des Buches im Aufzeigen dessen sieht, was „wir – als naive Handlungstheoretiker, als Amateur- Psychologen – unseren Mitmenschen und uns selbst eigentlich alles“ (S.13) antun. In diesem Zusammenhang nimmt er Bezug auf eine von Laucken gleich zu Beginn seiner Abhandlung (S.16) angeführtes, „erschreckendes Gespräch“ mit einem Gefängnispsychologen, in dem dieser berichtet, ein Großteil seiner Tätigkeit bestehe darin, seinem Vorgesetzten, einem Juristen, dessen Anschauungen über den Charakter Straffälliger auszureden. Der inhaltliche Nachweis (S.183ff.) der Defizite naiver Verhaltenstheorie erfolgt (nach Kaminski) in der Hauptsache durch das Aufzeigen ihrer Immunisierung gegen Widerlegung und ihrer Vorliebe für „defekte, parteiische Überprüfungsverfahren“ (S.14). Laucken selbst beurteilt zwar die naive Verhaltenstheorie ebenfalls negativ, soweit sie an wissenschaftlichen Maßstäben gemessen wird. Gleichwohl ist seine Stellungnahme etwas unentschiedener und zögernder, auch verständnisvoller.

Er sieht über die Fähigkeit zur schnellen Orientierung in aktuellen Situationen hinaus Bedenkenswertes an der „naiven Verhaltenstheorie“, verfolgt die Argumente für sie mit offensichtlichem Interesse und nimmt sie stellenweise in Schutz, wenn er etwa (S.192) darauf hinweist, daß nicht nur alltägliche Erklärungen, sondern auch psychologische häufig erst mit erheblichem Aufwand nach dem Schema der hypothetisch-deduktiven Erklärung 9 interpretiert werden können. Entscheidend ist aber – und hier zeigt sich wieder die andere Seite des Vexierbildes – , daß er den Erörterungen über den wissenschaftlichen Wert der „naiven Verhaltenstheorie“ einen ganz anderen, viel grundsätzlicheren Stellenwert für die Methodologie der Psychologie beimißt. Dies wird deutlich im „Kleingedruckten“ auf Seite 46, wo es im Anschluß an die Darstellung von Positionen des Symbolischen Interaktionismus und der Analytischen Handlungstheoriel 10 heißt:

„Erwiese sich die Behauptung der „Handlungsanalytiker“, daß das alltägliche Erklären menschlichen Handelns nicht dem hypothetisch-deduktiven Erklärungsschema folgt, als unwiderlegbar, so müßte das dieser Arbeit zugrunde gelegte Analyseinstrumentarium (…) für völlig untauglich erklärt werden. Es ist daher notwendig, sich mit der diesbezüglichen Argumentation der „Handlungsanalytiker“ näher auseinanderzusetzen (vgl. S.184 f f . )“

Methodologische Bedeutung des Alltagsverständnisses

Die „Handlungsanalytiker“ stellen damit aber nicht nur den methodologischen Rahmen von Lauckens Arbeit, sondern eine fundamentale Verfahrensweise der Psychologie infrage. Bestritten wird .ja – wie Laucken im gleichen Zusammenhang selbst anführt – nicht nur die Übersetzbarkeit alltäglichen Erklärens in das hypothetisch-deduktive Schema, sondern dessen Angemessenheit für das Erklären beziehungsweise Verstehen von Handlungen qua Handlungen überhaupt. Was vorher als empirische Untersuchung alltäglichen Erklärens erschien, gewinnt so betrachtet den Status einer Auseinandersetzung mit methodologischen Positionen. In diesem Doppelcharakter der Arbeit als empirischer Untersuchung der Zweck-Mittel-Struktur alltäglicher Handlungsdeutung einerseits und als methodologischer Auseinandersetzung unter Fachleuten andererseits wird die von der analytischen Handlungstheorie betonte prinzipielle Rückgebundenheit wissenschaftlicher Erklärungen menschlichen Handelns an vorwissenschaftlich benutzte Begriffe und Modelle sichtbar. Diese These wird von Laucken geteilt, wenn er beispielsweise betont, daß die wechselseitige Beeinflussung wissenschaftlicher und alltäglicher Begriffe und Modelle ohnehin nicht zu vermeiden sei. Diese erfolge nicht nur durch die Popularisierung wissenschaftlicher Theorien, sondern auch dadurch, „daß eine Vielzahl jetzt wissenschaftlich-psychologischer Begriffe ihren Ursprung in alltagstheoretischen Konzepten hat.“ (5.58), daß beide mithin unterschiedlichen Ansprüchen genügen mögen, aber nicht kategorial geschieden sind. Noch prägnanter wird dieser Zusammenhang im Schlußkapitel formuliert, wo Laucken feststellt, daß das im Alltag gebrauchte naiv-theoretische Wissen für die Psychologie ein „konstituierender Theoriebestand“ sein muß . Trotz seiner zentralen Stellung wird dieser Doppelcharakter innerhalb der Arbeit nicht thematisiert. Er zeigt sich lediglich, um nicht zu sagen: er verrät sich. Da schwer vorstellbar ist, daß sich Laucken der methodologischen Implikationen seiner Ausführungen nicht bewußt ist, ergibt sich der Eindruck einer methodologischen Abhandlung, die die Gestalt einer empirischen Untersuchung als Mimikry benutzt. Fragt man nach den Gründen, so muß sicher auch an den Meinungsdruck durch die in einem Fach vorherrschenden Paradigmen gedacht werden. Halbernst kann man erwägen, ob die bereits angeführte Anekdote von dem Gefängnispsychologen über die angegebene Intention hinaus den Autor vielleicht auch deshalb beeindruckt hat, weil er seine eigene Situation darin wiedererkennt, besonders wenn abschließend jener Psychologe von sich sagt, inzwischen „habe er gelernt, seine Vorschläge so zu „verpacken“, daß sie nur noch selten offen mit den Anschauungen seines Chefs kollidierten.“ (S.17)

Auf inhaltlicher Ebene entspricht der Ambiguität zwischen empirischer Untersuchung alltäglicher Handlungsdeutung und methodologischer Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Theorien der Verhaltenserklärung der Gegensatz zwischen der offensichtlichen Sympathie für gewisse methodologiekritische Postiionen und dem Festhalten am hypothetisch-deduktiven Schema als dem allein Wissenschaft konstituierenden. Laucken versucht, diesen Zwiespalt zu überwinden durch eine Widerlegung der handlungsanlytischen Argumentation, die Verknüpfung zwischen Bedürfnis und Handlung – und entsprechend die zwischen einem Zweck und einer Handlung als Mittel stellten keinen kausalen, sondern einen konzeptuellen Zusammenhang dar, in der Hauptsache aber durch die Verträglichmachung der beiden Schemata mittels des Aufweises einer Übersetzungsmöglichkeit des Zweck-Mittel- Schemas in das hypothetisch-deduktive. Die Art der sich ergebenden „gesetzesartigen Aussagen“ Gebrauch gemacht wird an den folgenden zwei Beispielen deutlich. 11

„Wenn eine Person unter normalen Umständen sagt, sie habe ein bestimmtes Ziel, so kann man annehmen, daß sie tatsächlich dieses Ziel hat.“

„Wenn eine Person ein Ziel hat, so bemüht sie sich, dieses zu verwirklichen.“

Diese „gesetzesartigen Aussagen“ werden dann in die bekannten modus-ponens-Figuren des hypothetisch-deduktiven Schemas eingebettet. Unbestritten lassen sich rein formal betrachtet alltägliche Erklärungen in dieses aus der alltäglichen Praxis sicher nicht geläufige Schema bringen. Fraglich ist freilich, welcher Erkenntnisgewinn damit verbunden ist. Sofern – wie für das hypothetisch- deduktive Schema üblich – der Anspruch nicht nur formal bleibt, erweist sich gerade das als Problem, was durch die Übersetzung als selbstverständlich suggeriert wird, nämlich die Gesetzesartigkeit der zitierten Aussagen. Der Bezug auf prinzipiell intersubjektiver Überprüfung unzugängliche Willenszustände als antecedens bzw. succedens ist nur eine der Schwierigkeiten, die gegen eine Behandlung als empirisches Gesetz mit reproduzierbaren Nachprüfbarkeitsbedingungen sprechen. Selbst wenn man Introspektion oder vergleichbare Verfahren zuließe und operationalisierbar wäre, was mit „normalen Umständen“ gemeint ist, würden sich die Aussagen wohl kaum als empirisch wahre Allsätze erweisen lassen. Ihr Status ist mithin durch die Umformulierung nicht klarer geworden. Insbesondere wird durch die formale Angleichung nicht inhaltlich gezeigt, daß diese Aussagen nicht als konzeptuelle zu verstehen seien, beziehungsweise daß sich ein solches Verständnis auf eine kausalistische Redeweise zurückführen ließe.

Cranach: Zielgerichtetes Handeln

Alltagsverständnis als methodologische Grundlage

Lauckens Bemühen, das Zweck-Mittel-Schema der naiv- theoretischen Handlungserklärung durch Übersetzung auf das hypothetisch-deduktive zurückzuführen, läßt das erstere wieder als nur empirischen Gegenstand der Untersuchung erscheinen und unterschlägt die Möglichkeit, es als eigenständige methodologische Alternative zu betrachten, die für ein wissenschaftliches Handlungsmodell prinzipiell ebenso geeignet sein kann wie die gleichfalls in vorwissenschaftlichen Handlungs- und Erklärungsweisen verwurzelten kausalistischen Modelle. Eben dies tut Cranach, der mit dem Begriff „Zielgerichtetes Handeln“ 12 in programmatischer Weise ein methodologisches Programm verbindet und zugleich deutlich macht, daß dieses – zumindest zum Zeitpunkt seines Entwurfs – nicht dem Kanon gängiger psychologischer Vorgehensweisen entspricht. Er schreibt:

„Sollten wir nach unseren Überlegungen erwarten, Handeln unter den zentralen Gegenständen der Psychologie anzutreffen, so bestätigen die Lehre und Forschung unseres Faches diese Erwartung leider nicht. In den Lehrbüchern der Psychologie und Sozialpsychologie , mit deren Hilfe wir die Anfänger in unsere Wissenschaft einführen, kommt Handeln so gut wie nicht vor; in unseren Fachzeitschriften sind die einschlägigen Arbeiten selten. Ein normal ausgebildeter Psychologe am Ende seines Studiums (und mancher Dozent in der Blüte seiner Kenntnisse) geriete in Verlegenheit, wenn er die Eigenschaften zielgerichteten Handelns erläutern sollte; wem aber ist etwa das S-R-Schema unbekannt? Das Paradigma des reaktiven Verhaltens herrscht vor, Handeln dagegen gehört offensichtlich nicht zum Kernbereich der Psychologie.“ 13 Handeln wird hier sozusagen im emphatischen Sinn als Gegenbegriff zu einem allein dem Reiz- Reaktions-Muster folgenden Verhalten verstanden. Diese Position beinhaltet die Anerkennung einer subjektiven Seite der Handlung, sowie sozialer Konstitution, Intentionalität, Bewußtheit und einer gewissen Autonomie von Handlungen, klassische Bestimmungsstücke des Handlungsbegriffs, die allerdings gerade auch in der psychologischen Fachdiskussion der letzten Jahrzehnte zunehmend in Frage gestellt wurden. Eng damit verbunden ist die Kopplung der Handlung an Zwecke. Handlungen werden auch in diesem Entwurf durch ihre Zielgerichtetheit konstituiert:

„Wir verstehen ((unter „Handeln“)) ein Verhalten, das (wenigstens zum Teil) bewusst, auf ein Ziel ausgerichtet, geplant und beabsichtigt (intendiert, gewollt) verläuft.“ (1980,S.24) und „Kein vernünftiger Weg

führt um die Feststellung herum, daß Menschen zielgerichtet und zielbewußt handeln; daher müssen auch unsere Handlungstheorien vom Zielbegriff ausgehen.“ Diese Bindung an den Zweckbegriff ist kein Zufall, gerade durch sie wird der Bezug auf Selbsterleben, Wahl und Intention des Handelnden ermöglicht. Der Zweckbegriff – und das wird bei der Kritik an Zweckbegriff und Zweckrationalität in Rechnung zu stellen sein – trägt in dem hier thematisierten Zusammenhang die Last der methodologischen Widerlegung einer kausalistischen, nur auf das S-R-Schema sich beschränkenden Verhaltenstheorie.“

Traditionsstränge zielorientierter Psychologie

Ein wesentliches Motiv für die Wiederaufnahme der Thematik des zielgerichteten Handelns liegt in einer veränderten Sichtweise des Verhältnisses von alltäglicher („naiver“) und wissenschaftlicher Psychologie. Cranach und seine Mitarbeiter nehmen die naive Psychologie nicht nur als Forschungsgegenstand, sondern ausdrücklich auch als Quelle für Theorien und Hypothesen ernst. (1980,S.22) Sie möchten die „Schizophrenie“ überwinden, daß der Psychologe im Alltag ohne Bedenken Gebrauch von Konzepten macht, die er sich in der Wissenschaft nicht anzuwenden gestattet, ja sie sogar für obsolet erklärt.

Grundsätzlich, wenn auch mit den erwähnten Einschränkungen, stimmt das mit Lauckens Position überein, besonders mit dessen Ausführungen über die durch die Psychologie geschaffene „Zweiklassengesellschaft“. Es überrascht daher nicht, daß Arbeiten zur naiven Psychologie, neben der von Laucken vor allem Heiders grundlegende Untersuchung 14 , eine der Traditionen darstellen, in die sich das Cranachsche Konzept stellt. Daneben sind es zum einen systemtheoretische Abhandlungen, so die von Miller-Galanter- Pribram und Hacker, zum andern Theorien sozialer Handlungskontrolle, von denen die von Goffman und Harre-Secord am ausführlichsten behandelt werden. Einbezogen wird aber ein weites Spektrum von symbolischen Interaktionismus und Sprechakttheorie bis hin zu analytischer Handlungstheorie und phänomenologischer Fundierung sozialer Zusammenhänge. In allen drei Richtungen lassen sich Belege für eine enge Bindung des Handlungsbegriffs an den des Zwecks finden. Für die naive Psychologie ist das anläßlich Laucken schon ausgeführt worden, für die Systemtheorie sei stellvertretend Hacker angeführt, der sagt: „Unter Handlung verstehen wir die kleinste psychologische Einheit der willensmäßig gesteuerten Tätigkeit. Die Abgrenzung dieser Handlung erfolgt durch das bewußte Ziel, das eine mit einem Motiv verbundene Vorwegnahme des Ergebnisses darstellt. Nur kraft ihres Ziels sind Handlungen selbständige, abgrenzbare Grundbestandteile („Einheiten“) der Tätigkeit.“ 15

Für die Theorien sozialer Kontrolle wird das anhand von Schütz’ Um-Zu-Motiv, an der teleologischen Fassung des Intentionalitätsbegriffs in der analytischen Handlungstheorie und in gewissem Umfang auch an der Sprechakttheorie gezeigt werden.

  1. Uwe Laucken, Naive Verha1tenstheorie. Ein Ansatz zur Analyse des Konzeptrepertoires, mit dem im alltäglichen Lebensvollzug das Verhalten der Mitmenschen erklärt und vorhergesagt wird, Stuttgart (Klett) 1974 ↩︎
  2. Vgl. Alfred Schütz (1932), Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Erankfurt (Suhrkamp) 1974, bes. S.115 – 121 ↩︎
  3. Mit Einschränkung, weil der Begriff Kausalität in diesem Konzept teilweise durch einen funktionalistischen Zusammenhang ersetzt wird. Andererseits wird z.B. bei Hempel über die Rege1mäßigket des Zusammentreffens der verknüpften Ereignisse hinaus die Gesetzesartigkeit des Zusammenhangs gefordert. ↩︎
  4. Hull 1943, S.27 ??vgl. Wittgenstein „wie Automaten etc.“ zit. nach Laucken 1974 S.48 ↩︎
  5. Maslow 1966, S.49, ebf. zit. nach Laucken 1974, S.48 Nicht ohne Ironie ist in diesem Zusammenhang die Bezugnahme auf die Baconsche Idolenlehre (Laucken, Anm. 28), wo davor gewarnt wird, Naturerscheinungen nach menschlicher Analogie zu verstehen – auch den Menschen nicht nach menschlicher Analogie verstehen zu wollen, ist demgegenüber noch ein weiterer Schritt. ↩︎
  6. Laucken 1974, S.48, Vgl. Kelly, The Psychology of Personal Constructs, 2Bd., New York 1953 ↩︎
  7. Zustimmend wird in diesem Zusammenhang Bannister mit dem hübschen Vergleich zitiert: „Ein Psychologe, der nicht denken kann, ohne einen varianzanalytischen Versuchsplan im Hinterkopf zu haben, ist in der Tat in einem traurigen Zustand“ … „Er erinnert mich an einen meiner Patienten, der unfähig war, ein Mädchen zu fragen, ob sie mit ihm ins Kino gehe, weil ihn dann stets die Frage heftig bewegte, wie es mit ihnen beiden weitergehen werde, wenn sie erst einmal verheiratet sind“ Bannister 1966a, S.22 ↩︎
  8. Dafür ist auch die teilweise künstlich wirkende Ausdrucksweise verantwortlich. Ein Beispiel (Studentendiskussion): „A: Mir erscheint es in der Tat sehr wichtig, die mögliche eskalatorische Wirkung einer Demonstration zu berücksichtigen; insbesondere denke ich an den Fall des Einsatzes von Schlagstöcken von seiten der Polizei. – B: Ich erachte die Furcht vor einer Auseinandersetzung mit der Polizei für unbegründet.“ (S.89) ↩︎
  9. Das hier hypothetisch-deduktive, sonst auch deduktivnomologische genannte Erklärungsschema (auch „Hempel- Oppenheim-Schema“ oder „covering-1aw-mode1“ sind gebräuchlich) besagt, kurz gesagt, daß ein Ereignis erklärt ist, wenn es aus einem oder mehreren allgemeinen Gesetzen und dem Vorliegen der in den Gesetzen enthaltenen Anfangsbedingungen abgeleitet werden kann. Erweiterungen ergeben sich, wenn statt allgemeingültiger Gesetze solche mit nur statistischer Geltung einbezogen werden. Laucken betrachtet das hypothetisch-deduktive Erklärungsschema als das wesentliche Kriterium wissenschaftlichen Vorgehens. %%% Vgl. auch Kap.IV ↩︎
  10. Im deutschen Sprachraum hat es sich eingebürgert, von Handlungstheorie (wie von Wissenschaftstheorie) zusprechen, obwohl die englischen Vorbilder als philosophy of action (bzw. als philosophy of science) bezeichnet werden. ↩︎
  11. Laucken 5.190. Laucken geht nicht ein auf die handlungsanalytischen Diskussionen um den praktischen Syllogismus, in denen die Kausalgesetzlichkeit gerade dieses Typus von Aussagen bestritten wird. Vgl. G.H. von Wright, Erklären und Verstehen, %%% Verweis auf später ↩︎
  12. Diesen Titel trägt die von M.v.Cranach gemeinsam mit U.Kalbermatten, Katrin Indermühle und Beat Gugler verfaßte Arbeit: Zielgerichtetes Handeln, Bern, Stuttgart, Wien 1980 (Huber) ↩︎
  13. Cranach u.a. 1980, S.35. Noch deutlicher wird diese Situation in einem Forschungsbericht von 1983 angesprochen, wo Cranach von der Notwendigkeit therapeutischer Bemühung zur Stärkung des Durchhaltevermögens gegenüber dem Druck der im Fach vorherrschenden Paradigmen spricht. (M.v.Cranach, E. Mechler, V. Steiner, Die Organisation zielgerichteter Handlungen: Ein Forschungsbericht, Forschungsberichte aus dem Psychologischen Institut der Universität Bern 1983-4, S.l)(S-R-Schema = stimulus-response-Schema, das bekannte Reiz-Reaktions-Muster)
  14. Heider, F., The Psychology of Interpersonal Relations. Wiley, New York, 1958; deutsch: Psychologie der interpersonalen Beziehungen. Stuttgart (Klett) 1977 ↩︎
  15. Hacker (1973) S.70, zit. nach Cranach 1980, S.57 ↩︎

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